30 Jahre Einheit Deutschland: „Die Ungleichheit nimmt zu“

titelten viele Berichte, die zeitgleich zu den offiziellen Feiern zum angeblichen 30. Jahrestag der Einheit Deutschlands am 3. Oktober 2019 erschienen. (Der wirkliche Jahrestag ist natürlich der Sturz der Mauer am 9. November).

Die Frage ist, wann dieser „tiefe Graben“ der Ungleichheit „die Fundamente der Demokratie erodieren“ lässt, kommentiert die SZ vom 8. Oktober.

9. Oktober 1989: „Wir sind das Volk!“

Vor 30 Jahren, am 9 Oktober 1989, standen tausende und abertausende Arbeiter*innen vor allem aus den Großbetrieben in Leipzig an der Spitze der Demonstration der 70.000. Mit ihrer zentralen Losung: „Wir sind das Volk“ wurde diese Demonstration zum entscheidenden Signal für den revolutionären Volksaufstand in der DDR.

Die SED-Machthaber, die bereit waren, den Truppen den Schießbefehl zu geben (wie zuvor die Pekinger Führung am Tienanmen-Platz, vergl. Krenz) blieben angesichts der machtvollen Mobilisierung des arbeitenden Volkes handlungsunfähig. Die Parteiherrschaft und ihr Unterdrückungsapparat kapitulierten vor der Macht des arbeitenden Volkes. Neun Tage später musste Honecker zurücktreten.

„Wir sind ein Volk“

Einen Monat später, mit dem Sturz der Mauer, dem materiellen Symbol der Hand in Hand von den imperialistischen und stalinistischen Herrschaftsmächten auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam aufgezwungenen Teilung Deutschlands, hatte das Volk gegen alle herrschenden Kräfte seine Forderung durchgesetzt „Wir sind ein Volk – wir wollen die Einheit Deutschlands“, schreibt Cornelia Matzke (in: Ungelöste Probleme der Revolution von 1989, Berlin 2010; sie war ab 1990 Abgeordnete für die Fraueninitiative in dem nach dem Sturz der Mauer ersten frei gewählten Landtag Sachsens).

„Wir sind ein Volk – gleiche Errungenschaften“

Dieser Ruf des Volkes 1989, die Forderungen nach gleichen Errungenschaften in einem vereinheitlichten Deutschland, wird heute mehr denn je von der offiziellen politischen Öffentlichkeit unterdrückt.

Sehr schnell nach der politischen Vereinigung musste die Bevölkerung Ostdeutschlands die bittere Erfahrung machen, dass ihre Industrie, sowie Millionen Arbeitsplätze und die damit verbundenen sozialen Errungenschaften liquidiert wurden.

Für fast die Hälfte der Ostdeutschen ist es noch heute Realität, dass sich die Hoffnung auf gleiche Errungenschaften nicht erfüllt hat. Diese Einheit wollten sie nicht!

Gleiche Errungenschaften,

das hieß, Angleichung des Lebensstandards von Ost an West,

das hieß, Ausweitung der von der Arbeiterschaft und ihren Organisationen im Westen erkämpften historischen Errungenschaften des Sozialstaates, die sich auf die Errungenschaften im Osten stützen können.

Gleiche Errungenschaften,

das hieß aber auch: auf der Grundlage des Erhalts der Errungenschaften „sozialen Eigentums“ und des Schutzes des staatlichen Eigentums an den Betrieben vor dem Zugriff der Profitgier des Kapitals“ – nach der Verjagung der parasitären Bürokratie.

So wandte sich 1989 Wenzel Woborill, ein alter Sozialdemokrat aus Ostdeutschland, voller Hoffnung an die SPD: „Die Geschichte gibt uns jetzt die reale Möglichkeit (…), den freiheitlichen demokratischen Sozialismus und die Einheit der Arbeitnehmerschaft zu verwirklichen“. (s. Ungelöste Probleme der Revolution von 1989, a.a.O.).

Die Ungleichheit nahm im Westdeutschland der ersten Nachkriegszeit (auch auf Grund der Erfahrungen mit der „Raubtiernatur des Kapitalismus“, die verantwortlich war für die Barbarei des Faschismus, Kurt Schumacher) nicht so krasse Formen an, wie zunehmend erst nach 1989 und vor allem mit der Agenda-Politik 2003, durch die die Kluft zwischen arm und reich brutal vergrößert wurde. So hatte das Grundgesetz von 1949 „die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ gefordert. Dieser GG Art. wurde 1994 „abgetrieben“ und durch die schwächere Verpflichtung auf die „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ ersetzt. Dennoch war der Westen Deutschlands vor 1989 von Ungleichheit der Einkommen zwischen der arbeitenden Bevölkerung und den Privateigentümern an Kapital- und Produktionsmitteln…. geprägt. Im Dezember 1989 veröffentlichte der Paritätische Wohlfahrtsverband im Westen gegen die vehemente Ablehnung der Bundesregierung seinen ersten Armutsbericht.

Im Osten gab es eine größere Einheitlichkeit in den Lebensverhältnissen des Volkes, worüber sich allerdings eine Schicht parasitärer Partei-, Staats- und Wirtschafts-Bürokratie erhob, die sich – auf der Basis der politischen Unterdrückung des Volkes – als Schmarotzer am staatlichen Eigentum, an der Wirtschaft, den Produktionsmitteln und Betrieben bereicherte.

Gleiche Errungenschaften, wie in Ostdeutschland gefordert,

auf der Grundlage der Enteignung des Kapitals und der Reorganisierung von Wirtschaft und Gesellschaft des vereinten Deutschlands;

- das hätte nicht nur den Sturz der SED-Diktatur, verbunden mit der Überwindung der Teilung Deutschlands verlangt. Es hätte verlangt, dass das gesamte deutsche Volk souverän in „freier Entscheidung“ über seine Verfassung beschließen kann, was das GG vorsah. Das hätte die Einberufung einer gesamtdeutschen Verfassunggebenden Versammlung verlangt, in der gewählte Delegierte des Volkes über die gesellschaftliche, politische und soziale Form der zu schaffenden vereinten Republik Deutschland selbst bestimmen.

In den ersten „freien Wahlen“ in Ostdeutschland am 18. März 1990, wie in der Bundestagswahl im Dezember, traten als etablierte Parteien ausschließlich solche an, die der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verpflichtet waren. Mit dem Einigungsvertrag verbunden war dann ganz konsequent auch die vertraglich definierte Integration des sich vereinenden Deutschlands in den entstehenden kapitalistischen EG-Binnenmarkt und Maastrichter Vertrag. Die staatlichen, politischen und wirtschaftlichen Institutionen der DDR wurden aufgelöst und die ostdeutsche Bevölkerung der privatkapitalistischen Marktwirtschaft und der bürgerlichen Staatsordnung unterworfen.

Die Folge war die Liquidierung und Privatisierung des staatlichen Eigentums an den Produktionsmitteln. 80-90 % der gut 3 Millionen industriellen Arbeitsplätze wurden zerstört. Die sozialen Errungenschaften, die mit dem gesellschaftlichen Eigentum verbunden waren, wurden privatisiert oder ebenfalls liquidiert (wie im Gesundheitswesen – Polikliniken/Gesundheitszentren, im Bildungswesen, Kinderbetreuung, die Sozialleistungen der Betriebe, Recht auf Arbeit, Frauen-gleichberechtigung, kommunaler Wohnungsbestand…). Ein Großteil der Bevölkerung wurde vor 1989 von den Maßnahmen der Sozialpolitik aufgefangen. Die -wenn auch marode soziale Infrastruktur – hatte eine bestimmte Gleichheit und Sicherheit des sozialen Standards – wenn auch auf niedrigerem Niveau – in Ostdeutschland garantieren können. Mit der Vereinigung unter kapitalistischer Dominanz wurde die Arbeiterschaft zu Massenarbeitslosigkeit und Verarmung verurteilt.

Gleichzeitig aber wurde dafür gesorgt, dass größere Teile der alten SED-Bürokratie und Führungskräfte in Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft (der Nomenklatura) ihre ehemaligen Privilegien und ihr angehäuftes Privateigentum über die Wende hinwegretten konnten. Nicht wenige von ihnen haben profitiert und erhielten im vereinten Deutschland einen Platz in der Privatwirtschaft, in staatlichen Institutionen, der Verwaltung und Politik.

Im vereinten Deutschland:

Die Ungleichheit zwischen Ost und West, die durch die massive Verarmung und hohe Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland nach der Wende noch gesteigert wurde, wurde bis heute vielleicht abgeschliffen, doch keineswegs überwunden.

Nach Angaben des WSI liegt der Lohnabstand zwischen den ost- und westdeutschen Ländern bei den Vollzeitbeschäftigten bei fast 17%  (in Sachsen sogar bei 18,2 %).

Die Tariflöhne wurden durch gewerkschaftlichen Kampf zwar bis auf 97,6% angeglichen, allerdings sind nur noch 45% der Beschäftigte im Osten (in Sachsen nur 39%:) tarifgebunden. Ein Drittel der abhängig Beschäftigten in Ostdeutschland (in ganz Deutschland sind es ein Viertel) haben Niedriglöhne (DIW). Von den unter 25 Jährigen im Osten sind es 56%. Die Ost-Metaller arbeiten also noch immer drei Stunden länger als die West-Metaller; das macht über das Jahr gerechnet ein Monatsgehalt aus.

Die von Schröder initiierte Politik der AGENDA 2010, der sich alle folgenden Regierungen verschrieben haben, hat den sozialen und politischen Verfall in Ost- wie Westdeutschland vorangetrieben, wobei sich der Osten Deutschlands als Experimentierfeld erwies: Die Derregulierung der Arbeitsverhältnisse und Ausweitung der Tarifflucht jeder Art, 23% der Beschäftigten werden in den Niedriglohnsektor geworfen, Demontage der sozialen Sicherungssysteme, Abbau der Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte im vereinten Deutschland. Das betrifft auch die Deindustrialisierung, die nicht vor dem Westen haltgemacht hat. Unter dem Diktat der Schuldenbremse kaputtgesparte Regionen und Kommunen, wie sie uns aus dem Osten bekannt sind, bestimmen heute ebenfalls den gesamtdeutschen Alltag. In Westdeutschland sind heute nur noch 56% der abhängig Beschäftigten tarifgebunden.

Die Ungleichheit im vereinten Deutschland nimmt auch heute noch zu. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist laut einer Untersuchung des WSI so groß wie nie zuvor. Die reichsten zehn Prozent besitzen mehr als die Hälfte des gesamten Vermögens (56 Prozent), die ärmere Hälfte hat dagegen nur einen Anteil von 1,3 Prozent. (DIW). Allerdings wächst auch die Ungleichheit innerhalb der Arbeiterschaft – zwischen der wenn auch kleiner werdenden Schicht von Arbeitnehmer*innen, die in den großen Flächentarifvertrag sind und einer wachsenden Schicht in unsicheren, prekären Arbeitsverhältnissen, im Niedrigtarif- und Niedrig- und Billiglohnbereich.

Nach den Prognosen des DIW wird in den kommenden 20 Jahren die Altersarmut in Deutschland weiter ansteigen. Besonders stark steigt das Armutsrisiko für ostdeutsche Rentner, wegen der hohen Zahl von Beschäftigten in Leiharbeit, befristeten Arbeitsverhältnissen, Minijobs und Teilzeit; flächendeckend werden hier die niedrigsten Löhne gezahlt

 

Auch zwischen Ländern und Kommunen steigt die Ungleichheit. Zu den ärmsten Regionen im Westen gehören nach einer Bertelsmann-Studie das Ruhrgebiet, Saarland und Rheinland-Pfalz. Das Haushaltsdefizit der armen Kommunen lag im Zeitraum 2010 bis 2017 bei fast einer Milliarde Euro. Zu den ärmsten Städten gehören der Studie zufolge fünf im Ruhrpott, darunter Gelsenkirchen – dort bezieht fast jeder Vierte Hartz IV. In Essen, Herne, Duisburg und Dortmund bekommt etwa jeder Fünfte Hartz IV.

Ostdeutschland als Einheit gesehen liegt auch 30 Jahre nach der Wende weiterhin deutlich hinter dem westlichen Bundesgebiet (WSI): sowohl mit der Wirtschaftskraft, die bei 75% liegt, den durchschnittlichen Einkommen, dem Lebensstandard und der sozialen Absicherung, sowie der staatlichen Infrastruktur.

So ist es nicht überraschend, dass sich laut einer jüngst für die Bundesregierung durchgeführten Umfrage 57 Prozent der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse fühlen.

Die Zeit veröffentlichte am 2. Oktober eine repräsentative Studie. Danach „schätzen die Ostdeutschen die Sicherheit des Arbeitsplatzes und soziale Gerechtigkeit als weniger gut ein als vor 1990“ und nur 52% der Ostdeutschen finden. „die Hoffnungen der Einheit hätten sich im Großen und Ganzen erfüllt“.

30 Jahre Einheit Deutschlands – einheitliche Lebensverhältnisse?

Die Entwicklung zeigt, dass die soziale Einheit Deutschlands im Rahmen der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse nicht verwirklicht werden kann. Im Gegenteil, Realität ist die zunehmende Ungleichheit.

Die Verwirklichung der sozialen Einheit Deutschlands, des Auftrags der revolutionären Bewegung von 1989, ist bis heute ein ungelöstes Problem.

Carla Boulboullé

 

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