Große Koalition und SPD im Siechtum

In den Europa-Wahlen wird die Große Koalition erneut mit einem historisch schlechtesten Ergebnis abgestraft. Damit tritt sie in das Stadium des politischen Siechtums. Was seinen konzentrierten Ausdruck in der Untergangskrise der SPD findet. Die Koalitionsparteien bleiben jetzt auch in bundesweiten Wahlen ohne parlamentarische und Wählermehrheit, ihre soziale Wählerbasis schmilzt dahin und die Ablehnung der gesellschaftlichen Mehrheit, der arbeitenden Bevölkerung und Jugend, vertieft und verschärft sich.

Bedroht von einem durch die Ablehnung und inneren Konflikte erzwungenen vorzeitigem Ende, müssen sich die Führungsapparate beider Parteien um den Fortbestand ihrer Regierungskoalition bemühen, weil nur sie die zerstörerische Agenda-Politik im Interesse der Krisenanforderungen des kapitalistischen Systems fortsetzen kann.

Das wirtschaftlich stärkste Land Europas wird mit einer solchen Regierung eher zu einem Faktor einer neuen Etappe der Destabilisierung der Brexit-geschüttelten, politisch und ökonomisch zerfallenden EU.

Die gleichzeitigen Kommunalwahlen in neun Bundesländern in West und Ost spiegeln im Wesentlichen das gleiche Bild wie die Europa-Wahl. Sie ermöglichen einen genaueren Blick auf die Ablehnung als Ursache der Zersetzung des alten Parteiensystems, der Hauptstütze des politischen Systems der BRD.  Diese Ablehnung richtet sich gegen die seit Schröder von allen Regierungen  fortgesetzte Agenda-Politik der Zerstörung der sozialstaatlichen Errungenschaften; sowie gegen die politische Unfähigkeit und Weigerung der Regierenden (auch auf Landesebene), eine politische Lösung der Probleme, die durch den kapitalistischen Raubbau am Sozialstaat und auch an der Natur aufgeworfen werden, im Interesse der Gesellschaft durchzusetzen.

Da diese Ablehnung keine authentische politische Vertretung findet, sucht sie ihren Weg des Protestes und Widerstandes in vielfältiger und auch widersprüchlicher Form an den alten Parteien vorbei und zum Teil auch vorbei an den Gewerkschaften, soweit diese unter der Kontrolle der DGB-Führung bleiben, die die Große Koalitions-Regierung unterstützt.

„Die SPD ist gerade dabei, sich komplett abzumelden“,

schreibt die Süddeutsche Zeitung. Mit dem Verlust von 11,5%, verglichen mit der Wahl 2014, ist die SPD mit ihren 15,8% erstmals auf den dritten Platz hinter der Union und den Grünen gefallen. Die 15,8% bedeuten einen Anteil an den Wahlberechtigten von 9,6% (!). Selbst bei den Gewerkschaftsmitgliedern schrumpft sie um 14,9%, und damit auf den zweiten Platz hinter der Union.

Die schmerzlichsten Abstürze muss die SPD in den Regionen und Städten hinnehmen, die am schlimmsten von dem sozialen Zerstörungswerk der Agenda heimgesucht wurden: in den ehemaligen Hochburgen des Ruhrgebiets fällt sie in  einigen Städten um 16 – 20% und in NRW landet sie auf dem dritten Platz. In den östlichen Bundesländern schrumpft sie mehrheitlich auf knapp über 10% und in Sachsen auf 8,6%.

In Berlin landet die SPD bei 14% auf dem dritten Platz hinter der CDU und den mit 27,8% stärksten Grünen.

In solchen Regionen wie das Ruhrgebiet im Westen, als auch in der großen Mehrheit der östlichen Länder, zieht die AfD überdurchschnittlich Proteststimmen auf sich und wird zur stärksten Partei in Sachsen und Brandenburg.

Als regierende Agenda-Partei in Berlin, Brandenburg und Thüringen erleidet DIE LINKE starke Verluste in allen östlichen Bundesländern, einschließlich in Berlin, sowohl in der Europawahl als auch in den Kommunalwahlen.

Die Unzufriedenheit mit der Leidensgeschichte des weiteren Verbleibens in der Großen Koalition und dem quälenden Selbstzerstörungsprozess der Fortsetzung der verhassten Agenda-Politik des Kaputtsparens und der Privatisierung unter dem Diktat der Schuldenbremse, sowie der Deregulierung und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse durch die Zersetzung des Tarifvertragssystems und der Hartz-Gesetze um Hartz IV, führt zu Konflikten im SPD-Führungsapparat.

Doch diese Konflikte bleiben grundsätzlich zahnlos, da alle Führungskräfte, und gerade auch die des DGB, den Grundsätzen der Agenda-Politik verpflichtet sind. Einerseits fällt ein Schatten der Resignation auf diese Konflikte. Angesichts der Wirkungslosigkeit der Aneinanderreihung von betrügerischen „Korrekturreformen“ an der Agenda durch die Minister Heil, Giffey und Scholz und der vagen Verkündigung einer „Großen Sozialstaatsreform 2025“ durch Nahles, was alles der arbeitenden Bevölkerung, der Jugend, Mietern und Rentnern wie Hohn in den Ohren klingt, werden sie andererseits umso erbitterter bis zur Selbstzerfleischung ausgetragen.

Den Mut und die Bereitschaft zum konsequenten Bruch mit der Agenda-Politik, d.h. der Verpflichtung auf die politische Vertretung des unbedingten Willens der gesellschaftlichen Mehrheit, und sicherlich zahlreicher Mitglieder der SPD, erwartet niemand von diesen alten Agenda-Führungskräften der SPD. Natürlich würde das auch die sofortige Aufkündigung der Regierungszusammenarbeit mit der Union in der Großen Koalition bedeuten.

In den Europa-Wahlen verblasste die Rolle, die DIE GRÜNEN für die Umsetzung der Agenda-Politik vor allem als Mitglied von Landesregierungen spielt. Entgegen den verlogenen Phrasen der SPD und Linken über die demokratische und soziale Erneuerung der EU und Europas konnten die Grünen in diesen Wahlen auch mit Hilfe der Ablenkung auf die Klimapolitik überall zulegen – wenn auch im Osten deutlich bescheidener. Das gelang den Grünen aus dem gleichen Grund umso mehr in den Kommunalwahlen in den neun Bundesländern.

Den größten Zulauf fanden die Grünen bei der Jugend. 34% der jüngsten Wählergruppe bis 24 Jahre gaben den Grünen ihre Stimme, für die SPD blieben 9 % übrig, womit diese Partei auf den sechsten Platz, vor der AfD, zurückfällt. Dieser Erfolg bei der Jugend wird von den Grünen selbst, am eifrigsten aber von den Parteien der Großen Koalition als Hauptverantwortliche für die Agenda-Politik, mit dem Etikett „wegen der Klimapolitik“ versehen.

Das Nein der Jugend zum „kapitalistischen System“

Die Realität aber ist eine andere.

Seit längerer Zeit mehren sich die Demonstrationen von Schülern, auch mit Lehrern und Eltern, gegen den Notstand in den Schulen, gegen die ausbleibenden Milliardeninvestitionen für die Sanierung der Schulen und vor allem für mehr Lehrpersonal. Noch zwei Tage vor den Europa-Wahlen zogen 320000 streikende Schüler, zunehmend auch Studenten, in den Städten der Bundesrepublik im Rahmen des „Friday for Future“ auf die Straße.

Das ist eine Jugend, die die Erfahrung mit einer Regierung macht, die z. B. die Autoindustrie und Energiekonzerne mit Milliarden auf Kosten der Steuerzahler subventioniert für heuchlerische Halbmaßnahmen gegen die von ihnen verursachten Schäden an Gesellschaft und Natur, die Kosten dafür aber auf die Arbeitnehmer in Form von Arbeitsplatzvernichtung und auf die Bevölkerung in Form von Preiserhöhungen abwälzt.

Die Realität, das ist die leidenschaftliche Absage dieser Jugend an eine Regierungspolitik der Verteidigung der Profitinteressen des Kapitals. Mit den Stimmen für die Grünen protestiert sie gegen das „politische System“ und seine Hauptvertreter, die Parteien der Großen Koalition, die der Jugend keine Zukunftsperspektive bieten als die, sich politisch zu beugen. Als die, sich abzufinden mit immer schlechteren Bildungsbedingungen, die für eine zunehmende Zahl von ihnen die Vorbereitung sind auf demütigende Warteschleifen und prekarisierte Beschäftigungsverhältnisse nach ihren Bildungsabschlüssen oder, vermehrt, -abbrüchen.

Um die Ablehnung der EU-Politik und ihrer Institutionen durch die Arbeiter, Jugend und Völker Europas zu unterlaufen, haben die führenden Regierungen, allen voran die Große Koalition in Deutschland und Macron unter Nutzung aller Herrschaftsinstrumente, auch der öffentlichen Medien, Parteien und Gewerkschaftsführungen, eine Kampagne organisiert: für die Einheit der Demokraten und sozial fortschrittlichen Kräfte – gegen Nationalismus und Rechtspopulismus.

Im Wesentlichen vergeblich. In Deutschland allerdings haben sie zumindest eine höhere Wahlbeteiligung erreicht, die aber nichts an der durchschnittlichen Wahlverweigerung von knapp 50% in ganz Europa ändert.

Auch auf europäischer Ebene drückt sich die wachsende Ablehnung aus in der Zersetzung der nationalen Parteiensysteme, in dem Verlust der Mehrheit für die „Große Koalition“ von EVP und Sozialdemokraten (S&D) im Pseudoparlament der EU und richtet sich gegen die nicht demokratisch legitimierten politischen Institutionen der EU, die für die Formulierung der Politik im Interesse der multinationalen Großkonzerne und der internationalen Finanzmärkte zuständig sind.

Das „Weiter so“ der SPD-Führung provoziert Widerstand

Die SPD-Vorsitzende Nahles gab sich unerbittlich: „Wir glauben an unsere Politik!“ – auch wenn sie in Wahrheit selbst nicht daran glaubt. Ob mit Nahles oder mit ausgetauschtem Personal: der SPD-Führungsapparat will im Namen der „staatspolitischen Verantwortung“ „Weiter so“ machen mit der Zerstörungspolitik unter dem immer fadenscheinigeren Deckmantel betrügerischer Korrekturen – nun auch an der „Klimaschutzpolitik“ – und damit das Siechtum der Großen Koalition und den Selbstzerstörungsprozess der SPD verlängern.

Doch das kann nicht geschehen, ohne einen aufbrechenden Widerstand in der SPD zu provozieren, in der Mitgliedschaft und vor allem einer ganzen Schicht kommunaler Mandatsträger in engerem Kontakt mit der Bevölkerung und Gewerkschaftsverantwortlichen, die noch in direktem Kontakt zu den Belegschaften stehen.

Die Bewegung der Jugend wird das nur befördern. Ebenso die Widerstandskämpfe gegen die Wohnungsnot und Mietpreisexplosion, wie die der Arbeiterschaft für die Verteidigung und (Rück-) Eroberung ihrer Flächentarifverträge, gegen Entlassungen, für mehr Personal in Krankenhäusern und Pflege.

Carla Boulboullé, 31.5.2019

 

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