„Europas größte Volkswirtschaft… unregierbar geworden“ (Handelsblatt)

„Merkels schwerste Niederlage“ titelt das Handelsblatt seinen Leitartikel zum Scheitern der Sondierungsgespräche der vier Parteien für eine Jamaika-Koalition. Andere Presseorgane betonen die in der Geschichte der BRD einmalige Situation, dass Deutschland für längere Zeit in völliger politischer Unsicherheit und „ohne Aussicht auf eine regierungsfähige Regierung wie gelähmt“ bleibt.

Gleichzeitig versuchen alle die wirkliche Dimension der politischen Krise zu verleugnen, um sich ihr nicht stellen zu müssen. Sie wehren sich dagegen von einer „Staatskrise“ zu sprechen. Und doch haben die eingangs zitierten Krisenauswirkungen ihre Ursache in dem Zusammenbruch der Grundlage für das relativ stabile System der parlamentarischen Demokratie Nachkriegsdeutschlands: Das politische Gleichgewicht im Wechselspiel von jeweiliger Regierungs- und Oppositionsrolle der beiden Hauptparteien der großen gesellschaftlichen Klassen, der bürgerlichen Unionsparteien und der SPD mit ihrer historischen Berufung auf die politische Vertretung der Arbeiterschaft.

Das Zusammengehen der, wegen der fortgesetzten Agenda-Politik unter ihrer jeweiligen Regierungsführung, von den Wählern abgestraften Parteien in einer Großen Koalition war schon Ausdruck der Krise der parlamentarischen Demokratie. Das Wahldesaster für beide Parteien brachte den historischen Zusammenbruch des auf diesen Parteien gründenden Systems der parlamentarischen Demokratie der BRD.

Die internationale und ganz besonders die französische Presse ist geprägt von der Verunsicherung und Sorge darüber, dass das wirtschaftlich stärkste Land in Europa nicht die von ihnen erhoffte Rolle eines „Stabilitätsankers“ für die Euro-Zone und die EU spielen kann: Dass dieses Land seit den Wahlen in eine Phase der politischen Instabilität schliddert und ebenfalls von der Epidemie der „Unregierbarkeit“ angesteckt wird, die unter den Ländern und Regierungen der EU grassiert. So alarmiert die französische Les Echos: „Das seit den deutschen Wahlen vom 24. September bereits gelähmte Europa droht in eine nie dagewesene Krise zu stürzen.“

Alle vier Parteienanwärter für die Jamaika-Koalition waren schon Opfer der Ablehnung der Agenda-Politik, deren beiden Grundgesetze, die Schuldenbremse und die Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Profite durch Senkung der Lohnkosten sie auch jetzt als ihre gemeinsame Grundlage für eine Koalitionsregierung bekräftigt haben. CDU/CSU und Grüne kämpften um ihre Existenz, indem sie sich so zu profilieren versuchten, dass sich die Ablehnung selbst ihrer Mitglieder und erst Recht der Wähler nicht auf sie konzentrieren sollte.

Die FDP wiederum suchte ihr Heil darin, die Forderungen ihrer Wählerklientel und Geldgeber nach einer „neuen Agenda“, nach einer wesentlich verschärften Agenda-Politik für das Regierungsprogramm einer Jamaika-Koalition zu formulieren. Weshalb das Wall Street Journal als eins der wenigen Blätter den Abbruch der Sondierungsgespräche durch die FDP auf Grund solcher nicht durchsetzbaren Forderungen begrüßt.

Zu diesen Forderungen gehörte

-eine neu Offensive für die Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitsverhältnisse.

-Die Verschärfung der Kaputtsparpolitik unter dem Diktat der Schuldenbremse durch Senkung der „Sozialabgabenlast“ und durch Steuerentlastung für Unternehmen und Reiche und durch die Streichung, bzw. noch striktere Verweigerung von dringlich geforderten Investitionen für die staatliche Infrastruktur, Krankenversorgung und Kommunen.

-Schließlich, unter dem Etikett der Ablehnung weiterer Belastungen durch die Euro-Rettung – akut der Schuldenschnitt für Griechenland – die Erhöhung des Drucks für Maßnahmen der Schuldenländer gegen ihre Völker bis hin zur Androhung, Länder wie Griechenland gegebenenfalls aus der EU auszuschließen.

Merkel konnte nicht wagen, solche Forderungen für das Regierungsprogramm zu formulieren, obwohl diese – mit Ausnahme in Bezug auf Europa – im Rahmen der „neuen Agenda“ umgesetzt werden müssen.

In Panik versetzt angesichts einer längeren Phase chaotischer politischer Verunsicherung und ohne regierungsfähige Regierung trommeln die Führungskreise des Kapitals, der Politik, inclusive aus dem Führungsapparat der SPD, und deren gefügige Medien für den erneuten Eintritt der SPD in eine Große Koalition. Denn nur die SPD könnte, so ihre Hoffnung, die Rolle spielen, Kanzlerin Merkel zur Fortsetzung der Agenda-Politik zu befähigen und mit ihrem Einfluss auf die DGB-Führung erneut für die trügerischen „Korrekturen“, für die unverzichtbaren Trostpflaster an den schlimmsten Auswirkungen der Agenda sorgen. Um so zu versuchen, die unausweichlich zu erwartende noch gesteigerte Ablehnung und den Widerstand einzudämmen.

Das hat schon die bisherige Große Koalition weder vor dem „Aufstand der Wähler“, noch vor dem Aufschwung der gewerkschaftlich organisierten Kämpfe bewahrt. Und das wird unvergleichlich stärker der Fall sein für eine erneute Große Koalition der von diesem Wahldesaster getroffenen Unionsparteien und SPD unter einer extrem geschwächten Kanzlerin Merkel.

Eine neue Große Koalition – wie auch jede andere Regierungsform – unter diesen Bedingungen würde nicht Ausdruck der Kontinuität und einer wie auch immer gearteten politischen Stabilität sein, sondern Ausdruck und Faktor zugleich der gefährlichen Vertiefung der „Staatskrise“, der Krise aller politischen Institutionen der parlamentarischen Demokratie der BRD.

Das ist die historische Zäsur: Die stärkste Wirtschaftsmacht Europa tritt erstmalig in ihrer Nachkriegsgeschichte in eine Phase politischer höchster Instabilität.

Ein direkter erneuter Gang in die Große Koalition droht, dass der schon mit Schröders Agenda-Politik begonnene und mit der bisherigen Großen Koalition vorangetriebene Selbstzerstörungsprozess der SPD in einem selbstmörderischen Abenteuer endet. Die Tolerierung einer unionsgeführten Minderheitsregierung, d.h. die aus der Opposition heraus korrigierende Begleitung der Politik der „neuen Agenda“, – eine Vorstellung, die den Kräften im Parteiapparat der SPD nur als taktische Übergangsforderung für die Große Koalition dient – , wäre nur eine schleichende Form der Entwicklung in die gleiche Richtung. Grundlage für eine politische Reorientierung auf die Interessenvertretung des arbeitenden Volkes, der Jugend und Demokratie hat den wirklichen Bruch mit der Agenda-Politik zur Voraussetzung. D.h. den Bruch mit der von den Krisenanforderungen des Kapitals diktierten Schuldenbremse und der Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Profite und Rendite, in deren Rahmen die Industriekonzerne die neue Offensive für die Entindustrialisierung, für Arbeitsplatzvernichtung und Lohnkostensenkung durch jede Form der Tarifflucht schon eröffnet haben.

Davon zeugt das Beispiel Siemens (s. Artikel in dieser Ausgabe, S. 6 und 7). Unter dem Druck der „Mächtigen der Finanzmärkte“ (IG Metall), die der Regierung diese Politik diktieren, hier vertreten durch die Aktien-Anteilseigner und andere Finanz„investoren“, hat der Konzernvorstand die Schließung von Standorten und die Vernichtung von etwa 3400 Arbeitsplätzen in Deutschland, in der Sparte Kraftwerks- und Turbinenbau, und von 6000 in der Sparte Siemens Gamesa (Windturbinen) entschieden. Gleichzeitig hat er den Rekordgewinn von 6,2 Milliarden Euro verkündet sowie den Aufbau neuer Industriearbeitsplätze und Ausweitung der Produktion im Niedrig-Tarifland Tschechien.

Die im Siemensvorstand für Personal zuständige J. Kugel ruft die IG Metall und ihre Betriebsräte auf, vom Kampf abzulassen und zum klassischen Dialog über eine „sozialverträgliche Gestaltung“ der Zerstörungspläne zurückzukehren. Gestützt auf die Protestwelle der Siemensarbeiter lehnt der IG Metall-Vorstand das vorerst ab und will zur Not zum stärksten Mittel der Arbeiter und ihrer Gewerkschaft greifen, zum Arbeitskampf, Streik.

Der verstärkte Griff nach ihrer Gewerkschaft für die Organisierung des Arbeitskampfes auch gegen Entlassungen und Betriebsstillegungen ist ein Vorbote der größeren Kämpfe, mit denen jede neue Regierung im Dienste der „neuen Agenda“ und Offensive gegen die sozialstaatlichen Errungenschaften der Arbeiterschaft und Demokratie konfrontiert sein wird. Diese Kämpfe und der wachsenden Wählerablehnung gegenüber wird die Regierungsfähigkeit der extrem geschwächten neuen Regierung auf dem Prüfstand stehen.

Carla Boulboullé

 

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