Wahlverweigerung und Ablehnung

„Die Bürger wenden sich vom Projekt Europa ab“, titelt das Handelsblatt am Tag nach der Wahl.

Vor allem vorangetrieben von der großen Koalition Merkel/Gabriel und ihren Kandidaten Schulz und Juncker sollte mit dem Manöver, über die angeblich demokratische Wahl des Präsidenten der EU-Kommission, für eine scheindemokratische Legitimation gesorgt werden.

Doch alle Anstrengungen, der Institutionen der EU und ihrer Politik eine größere Legitimation zu verleihen, sind radikal gescheitert. Fast 57% der arbeitenden Bevölkerung und Jugend in Europa verweigern diesem „Parlament“ ihre Stimme.

Das Europäische „Parlament“ wird also auch künftig nur eine schwache Legitimation haben“, so die FAZ vom 26.5., „die „Retterei von Banken und Euro hat kaum Begeisterung ausgelöst“.

Es ist nicht zuletzt ein „Misstrauensvotum gegen die Politik“, interpretiert der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Grillo, den Wahlausgang. Während er das Vorantreiben der „Reformen“ fordert, als einzigem Ausweg aus der Krise, bringt er zugleich die „Besorgnis der Wirtschaft“ über die Fähigkeit der Politik zum Ausdruck, also der politischen Institutionen der EU und Regierungen, die vom Finanzkapital geforderten mörderischen Spar- und Strukturreformprogramme bis zu Ende durchzusetzen – und über die Führungsrolle, die die Große Koalition unter Merkel dabei spielen soll.

Der Tagesspiegel kommentiert: „Wie beim Euro ist die Union in die Sackgasse geraten, jeder Schritt ruft Widerstand hervor.“ (27. 5. 14) Die regierenden Parteien, die die Verantwortung für die Umsetzung der Strukturreformen, der harten Sparpolitik im Namen der Schuldenbremse und Wettbewerbsfähigkeit tragen, sowie für die schonungslosen Troika-Programme, wurden kräftig abgestraft – wie in Griechenland, Frankreich, Spanien, Portugal… Und in diesen Ländern bringt der Ausgang der EU-Wahlen die dramatische Verschärfung der Krise des politischen Systems selbst ans Licht.

Fast 52% der Wähler verweigerten in Deutschland bei den Wahlen zum Europa-„Parlament“ ihre Stimme.

Die DGB-Gewerkschaften hatten nichts unversucht gelassen, um mit ihrer Kampagne für einen „Politikwechsel“ in Brüssel und um „Rechts zu verhindern“, die Arbeiterschaft an die Wahlurne zu bringen. Das hat sicherlich dazu beigetragen, ein weiteres Absacken der Wahlbeteiligung zu verhindern.

Doch im Wesentlichen geht die gestiegene Wahlbeteiligung (von 43,3% im Jahr 2009 auf 48,1%) auf das Konto der Kommunalwahlen, die gleichzeitig in 10 deutschen Bundesländern stattfanden, darunter vor allem in dem bevölkerungsreichsten Land NRW.

Die enttäuschenden Verluste für die Union sind u.a. eine Antwort auf die Vorreiterrolle, die Merkel und die Union in der Politik der EU gegenüber der Ukraine eingenommen haben. Das deutsche Volk lehnt die Einmischung der EU und von Merkel, in Absprache mit Obama ab, die der Ukraine die zerstörerische EU-Politik der Austerität und Strukturanpassungsreformen diktieren und damit verantwortlich sind für die Auslieferung der Ukraine an einen nationalen Zerreißprozess.

Die Stimmengewinne der SPD (von 20,8% im Jahr 2009 auf jetzt 27,3%) gehen ebenfalls im Wesentlichen auf das Konto der gleichzeitig stattfindenden Kommunalwahlen in NRW und der DGB-Kampagne.

Die Jubelrufe Gabriels „Die SPD ist wieder da“ können niemand über die Tatsache hinwegtäuschen:

Alle größeren Parteien die zur Rettung der EU und des Euro zur Wahl angetreten sind, haben gegenüber den Bundestagswahlen 2013 einen massiven Teil ihrer Wählerschaft verloren, auch Die Linke. Der SPD fehlen fast 3,3 Millionen Stimmen und der CDU/CSU fast 8 Millionen. Schon gar nicht vermochte die SPD-Führung, die auch in den Bundestagswahlen verloren gebliebenen Millionen Stammwähler zu mobilisieren.

Darin drückt sich weiterhin die tiefe Ablehnung der Euro- und Banken-Rettungspolitik aus, der sich die SPD-Führung in der Großen Koalition erneut unterworfen hat; die Ablehnung der fortgesetzten Agenda-Politik der Schuldenbremse, der Demontage der sozialen Sicherungssysteme, des Lohnabbaus, der Deregulierung und der Prekarisierung und deren Umsetzung in Ländern und Kommunen.

Diese Ablehnung prägt auch die Kommunalwahlen – vor allem in NRW, dem politischen Schlüsselland in der Bundesrepublik.

In der gesamten Nachkriegszeit gab es noch nie eine so niedrige Wahlbeteiligung (50%). Vor allem die Städte des Ruhrgebiets ächzen unter der Last der Kaputtsparpolitik, die die Große Koalition als Gebot des Fiskalpaktes der EU den Ländern diktiert, und die diese den Kommunen aufzwingen:

Die CDU erleidet Verluste. Die SPD stagniert bei dem schlechtesten Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg, das sie schon 2004 verbuchen musste und 2009 noch getoppt hat.

Von den Kommunalwahlen in NRW geht eine weitere Schwächung der Großen Koalitionsregierung aus, und vor allem der SPD. Das verschärft die politische Schwächung der Großen Koalition durch die Wahlverweigerung in den EU-Wahlen.

Die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung und Jugend will, dass endlich Schluss ist mit der Agenda-Politik des Kaputtsparens, der Deregulierung und Prekarisierung. Sie will nicht, dass eine SPD-Führung, die den Gang in die Große Koalition mit einem “Politikwechsel” gerechtfertigt hat, über die trügerischen Korrekturen an der Agenda hinweg, Merkel hilft, diese Politik fortzusetzen.(*)

Darum erkämpfen die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, in Bund und Kommunen, und die Bauarbeiter mit ihrer Gewerkschaft eine wirkliche Reallohnsteigerung und durchbrechen das Diktat der Schuldenbremse und der Wettbewerbsfähigkeit.

Darum kämpfen die Drucker und Journalisten für die Verteidigung und Rückeroberung ihres Flächentarifvertrags.

Darum erheben sich, wie bei Amazon, immer neue Teile der prekarisierten Arbeiterschaft, greifen nach den Gewerkschaften und kämpfen für den Tarifvertrag und ihre Integration in den Flächentarifvertrag.

Darum steigt der Druck in den Krankenhäusern, Schulen und Hochschulen und beginnen kommunale Mandatsträger und Beschäftigte mit ihrer Gewerkschaft die Vorbereitung für die organisierte Mobilisierung gegen die Fortsetzung der Sparpolitik gegen die Kommunen.

Ist das nicht der Weg, über den die Arbeitnehmer und Jugendlichen in Deutschland ihren Platz einnehmen an der Seite ihrer Kollegen in ganz Europa für die Befreiung von den politischen Diktaten der EU und ihrer Institutionen, von ihren Verträgen und Richtlinien und den Troika-Programmen?

Carla Boulboullé

*) Dieser Gabriel ist gerade dabei, erneut im Namen eines “Politikwechsels” mit Merkel die Große Koalition auf europäischer Ebene für die Besetzung der EU-Kommission zu konstruieren, für die Fortsetzung der Zerstörungspolitik der EU/ Troika.


Aus: Soziale Politik & Demokratie Nr. 322 vom 28. Mai 2014

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