Die ersten hundert Tage der Großen Koalition

„Schlag auf Schlag kommen jetzt die richtigen Reformprojekte auf den Weg“, die großen Reformprojekte, die die „sozialdemokratische Handschrift“ tragen, erklärt Thomas Oppermann, Fraktionsvorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion (im Tagesspiegel, 23.3.14)

Und der DGB-Vorsitzende Sommer attestiert den ersten hundert Tagen der Großen Koalition: „Bei aller Kritik im Detail: die Richtung stimmt. Erstmals seit langem werden wieder Reformen für die Beschäftigten gemacht.“

SPD- und Gewerkschaftsführung organisieren damit eine politische Kampagne nicht nur für die Rechtfertigung des Gangs der SPD in die Große Koalition, sondern auch vor allem für die Verschleierung und Abdeckung der wirklichen Richtung des bisherigen Regierungshandelns: die Fortsetzung der Agenda-Politik.

„Sozialdemokratische Handschrift“ – „Politikwechsel“ – „Korrekturen“ an der Agenda-Politik?

Bei dieser „Bilanz der ersten 100 Tage“ geht es im Wesentlichen um die zum Teil schon im Kabinett eingebrachten und verabschiedeten Gesetzesentwürfe zum Haushalt und zur Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) (beide unter Verantwortung von Unionsministern), sowie zu Mindestlohn, Rente und „Mietpreisbremse“. In diesen letzten drei unter Verantwortung von SPD-Ministern erarbeiteten Gesetzen konzentrieren sich, so die SPD-Führung, die „sozialdemokratische Handschrift“, der „Politikwechsel“ und die „Korrekturen“ an der Agenda.

Der Haushaltsentwurf von Schäuble, vorgelegt in vollem Konsens mit der SPD-Führung, schreibt unter dem Diktat der durch den Fiskalpakt verschärften Schuldenbremse die Sparpolitik fort. Um 2015 das 0-Defizit zu erreichen, schreckt Schäuble nicht vor einem kräftigen Griff in die Arbeitnehmer-Sozialkassen, in die Rentenkasse und den Gesundheitsfonds, zurück und beschleunigt damit noch die Demontage dieser Systeme der sozialen Sicherheit.

Die weitere Kürzung des Zuschusses für den Gesundheitsfonds um 6 Mrd. Euro für 2014/15 (nach schon 2,5 Mrd. Euro in 2013) verschlimmern noch die Auswirkung des GKV-Finanzstruktur-Weiterentwicklungsgesetzes, das von Unionsminister Gröhe – wieder in voller Übereinstimmung mit der SPD-Führung – präsentiert wird: Während der Arbeitgeberbeitrag eingefroren wird, kommen auf die Arbeitnehmer-Beitragszahler weitere finanzielle Benachteiligungen mit dem neuen – in der Höhe unbegrenzten Zusatzbeitrag – zu, was den DGB zu einem zurückhaltenden Protest veranlasst.

Diese Kürzungen aber werden auch den schon katastrophalen Personalnotstand fördern, es fehlen 162.000 Vollzeitstellen in den Krankenhäusern, sowie den Kostendumping-Wettbewerb zu Lasten des Personals, der Versorgungsleistungen und Sachinvestitionen.

Wie sieht es nun mit der „richtigen Richtung“ aus bei den drei Gesetzen, denen der SPD-Fraktionsvorsitzende Oppermann eine „sozialdemokratische Handschrift“ bescheinigt?

Die Rente mit 63/65, die Mütterrente, vorwiegend finanziert aus der Rentenversicherung, sowie der Mindestlohngesetzentwurf werden von der SPD Ministerin für Arbeit und Soziales, Nahles, und dem DGB-Vorsitzenden Sommer als die Paradebeispiele des „Politikwechsels“ und der „Reformen für die Beschäftigten“ ausgelobt.

Die punktuelle Verbesserung für eine begrenzte Schicht langjährig Versicherter muss von der Mehrheit gerade der Bezieher niedrigerer Renten bezahlt werden: mit höherem Beitrag und sinkendem Rentenniveau. Das stoppt nicht die Altersarmut, im Gegenteil. Und die Schröpfung der Rentenkasse für das 0-Defizit im Haushalt – das alles führt zu einer Ausweitung der Altersarmut.

Nun zum Gesetzentwurf zum Mindestlohn.

„Es ist zweifellos eine der wichtigsten Sozialreformen in der Geschichte unseres Landes. Die Zeit der Dumpinglöhne ist nun endgültig vorbei“, so Oppermann im Tagesspiegel.
Geht es da endlich in die „richtige Richtung“?

Der beabsichtigte Mindestlohn bringt für einen größeren Teil der Billiglöhner eine Lohnsteigerung. Doch er stoppt nicht das Lohndumping. Er erhöht den Druck für die Senkung der Lohnkosten in allen anderen Beschäftigungsbereichen. Er fördert das Lohndumping durch die Ausweitung von Minijobs und er verschärft den Druck für jede Art der Flucht aus den Flächentarifverträgen, für Öffnungsklauseln und Ausgliederungen, für die Erosion der Tarifbindung. Und das tut er schon heute, vor seinem Inkrafttreten von 2015 bis 2018.

Der bis 2018 festgeschriebene Mindestlohn von 8,50 Euro liegt unter der Niedriglohngrenze von 9,15 Euro für Deutschland. Damit wird Deutschland weiterhin das Land mit dem größten Niedriglohnsektor in den EU-Ländern bleiben. Jeder vierte deutsche Arbeitnehmer wird auch künftig Niedriglöhner sein.

„Großes auf den Weg gebracht“, lobt die SPD-Führung, habe auch SPD-Justizminister Heiko Maas mit dem „Gesetz zur Mietpreisbremse“, das 2015 in Kraft treten soll.

„In die richtige Richtung?“ Weder wird so die katastrophale Wohnungsnot behoben, noch werden die Preise ausgebremst, um das Recht auf bezahlbare Wohnungen für alle Bürger zu garantieren, warnen Mietervertreter und auch Stimmen aus der SPD. Auch dem dramatischen Rückzug aus dem staatlichen Sozialwohnungsbau wird keine „Bremse“ eingezogen.

Allerdings werden diese „Reform“-Gesetze auch nicht die Ablehnung, den Widerstand und die Kämpfe der Arbeiterschaft und Jugend bremsen:

  • Die Warnstreikwellen der 100.000e KollegInnen im öffentlichen Dienst und die Kampfbereitschaft der Bauarbeiter für kräftige Reallohnerhöhungen, und für die Abwehr von „Kompensationen“ durch Privatisierungen, Entlassungen und Zersetzung der Tarifbindung.
  • Die Kämpfe für die Eroberung von Tarifverträgen und für die Integration in den Flächentarifvertrag, sowie gegen Tarifflucht und angedrohte Entlassungen, von Amazon über die Drucker bis zur Telekom.
  • Den steigenden Druck aus den Krankenhäusern und den Kommunen, um sich aus dem tödlichen Sparzwang zu befreien

Weisen nicht diese Kämpfe und die zunehmende Kampfbereitschaft den Weg in die richtige Richtung, im Interesse der arbeitenden Bevölkerung, der Jugend und der Demokratie:
den Weg des Widerstands gegen die Fortsetzung der zerstörerischen Agenda-Politik, die die Richtung der Großen Koalition in ihren ersten hundert Tagen bestimmt.

Carla Boulboullé


Aus: Soziale Politik & Demokratie Nr. 318 vom 27. März 2014

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