Streikwelle in der Niedergangsphase der Regierung Merkel/Scholz

Eine Woche vor der Wahl hat das Wahlkampfgetöse der Parteien einen neuen Höhepunkt erreicht. Abermillionen Plakate und alle Medien ertränken das Volk in einem Meer von teils hohlen, immer aber trügerischen Phrasen und Versprechungen der Parteien.

Sie wollen die schlechte Wirklichkeit verhüllen, für die alle verantwortlich sind. Und die noch schlimmere Zukunft nach den Wahlen, in der sie ihre Politik der sozialen und demokratischen Zerstörung verstärkt fortsetzen wollen.

Die wirkliche Bilanz der GroKo Merkel/Scholz, unterstützt von den Gewerkschaftsführungen und gestützt auf den politischen Prinzipienpakt aller fünf etablierten Parteien: Gemeinsamkeit – Regierung und Volk – gegen die Pandemie und dann gegen die Klimawende; gemeinsam für die Verschärfung der Kaputtsparpolitik gegen den öffentlichen Dienst, Krankenhäuser und Schulen, Zersetzung der Flächentarifverträge und Ausweitung des Niedriglohnsektors und Prekariats; Erstickung der Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung unter einer Preisexplosion für Mieten, Strom, Benzin, jetzt auch Lebensmittel…

Unter dieser beginnenden Zerstörung der historischen Errungenschaften des Sozialstaates, die nach 1945 erkämpft wurden, hat die Regierung eine gefährliche „soziale Sprengladung“ aufgehäuft. Diese schafft sich ein Ventil in einer beispiellosen Welle von Demonstrationen und Streiks.

Für den notwendigen Widerstand gegen diese Zerstörungspolitik hat die Arbeiterschaft begonnen, die Fessel des Streikverbots für „nichttariffähige Forderungen“ zu sprengen, die ihr seit Anfang der 1950er Jahre angelegt wurden.

Im Zentrum des Widerstandes: Die Rückeroberung des uneingeschränkten Rechts auf Streik

„Politische Streiks sind schlicht und einfach verboten. Daran halten wir uns selbstverständlich auch während der diesjährigen Bundestagswahl.“ (ver.di; s. Soziale Politik & Demokratie“, Nr. 455: „Appell statt Kampf? ver.di vor den Wahlen“). Als solche „politischen Streiks“ sind auch alle Streiks für Forderungen wie für mehr Personal, gegen Entlassungen und Ausgliederungen verboten, und das nicht nur in Wahlkampfzeiten.

Doch trotz der Bemühungen der Gewerkschaftsführungen, die Kämpfe einzugrenzen (und auf die Zeit nach der Wahl zu verschieben), sind die gewerkschaftlich organisierten Kolleg*innen in eine neue Phase des Kampfes getreten.

In der GDL organisierte Lokführer und Bahnpersonal haben sich in einem machtvollen flächendeckenden Streik gegen die von der Regierung zu verantwortende Sparpolitik gegen die Bahn, für mehr Lohn, gegen Personalnot und gegen die unerträglichen Arbeitsbedingungen erhoben.

Die Beschäftigten in Berlin von Charité und Vivantes, dem größten deutschen kommunalen Krankenhausverbund, kämpfen in einem vereinten Streik für die Forderungen nach „Mehr Personal“ und „TVöD für alle“, und für ein Ergebnis noch vor der Wahl. Sie sind die Speerspitze einer heranreifenden bundesweiten Kampfbewegung der Krankenhausbeschäftigten für diese Forderungen.

Im Tarifkampf im öffentlichen Dienst der Länder fordern die Kolleg*innen eine wirkliche Reallohnerhöhung – gegen die Regierungen, die mit leeren Kassen und rigorosen Sparhaushalten drohen, die vom Bund aufgezwungen werden.

Im Einzelhandel mobilisieren sich bundesweit die Kolleg*innen mit großer Streikbereitschaft für eine Reallohnerhöhung. Dabei steht der Osten in vorderster Front: die Kolleg*innen in Berlin, in Sachsen, Leipzig, Erfurt, Gera, Dresden, Chemnitz, aber auch in Thüringen.

Die Mitarbeiter*innen der Berliner AWO treten vom 15. bis zum 20. September 2021 zum wiederholten Mal in einen mehrtägigen Warnstreik für die Angleichung der Löhne an den Flächentarifvertrag der Länder.

Die bundesweiten  Kämpfe für „kräftige Reallohnerhöhungen“, für „die Rückeroberung der Flächentarifverträge“, die 2011/12 begonnen haben und immer breitere Schichten des Millionen-Heeres von tarifvertragslosen und prekarisierten, im Niedriglohnsektor gefangene Beschäftigte erfassen, haben heute eine neue Etappe erreicht, sie sind geprägt von dem Bruch mit der Ideologie und Praxis der hundertjährigen „Sozialpartnerschaft“- Zusammenarbeit mit der Regierung – und mit jeglicher Form gesetzlichen  Streikverbots.

Die gesamte Nachkriegszeit war bestimmt von der „politischen, vertrauensvollen Sozialpartnerschaft“ von Regierung und Gewerkschaften. Mit dem „Historischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit“ verzichtete die Gewerkschaftsführung auf das Recht auf Streik für „nichttariffähige Forderungen“. Sie unterwarf sich damit dem durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts erlassenem Verbot von Streiks gegen Regierungs- und Unternehmensentscheidungen, wie Entlassungen, Privatisierungen, Ausgründungen oder Tarifflucht… Diese Fesselung der gewerkschaftlichen Kampfkraft der Arbeiterschaft hat seit Anfang der 1950er Jahre eine relative soziale Stabilität garantiert, genauer gesagt: erzwungen.

In Folge des o.g. Aufschwungs der Kämpfe seit 2011/12 wurden unter der 2. GroKo Regierung Merkel/Gabriel zwei einschneidende Gesetze verabschiedet, die über einen offensiven Angriff die gewerkschaftlich organisierte Kampfkraft schwächen sollten – in einer Situation, in der die Tarifflucht und die Zersetzung der Flächentarifverträge mit dem Ziel der Senkung der Lohnkosten sowohl in der Industrie wie im öffentlichen Dienst/Dienstleistungen aggressiv vorangetrieben wurden.

Im August 2014 wurde das Mindestlohngesetz im Bundestag beschlossen, das sich frontal gegen die von der Arbeiterschaft mit ihren Gewerkschaften erkämpfte Errungenschaft des Flächentarifvertragssystems richtet. Es bricht mit dem alleinigen Recht der Gewerkschaft auf Lohnfindung durch Tarifverhandlungen und -abschluss und zementiert die tariflosen, entrechteten Beschäftigungsverhältnisse im Niedriglohnsektor.

Im Juli 2015 setzt die GroKo mit dem Tarifeinheitsgesetz (TEG) einen weiteren Meilenstein in ihrer Offensive gegen das Streikrecht und gewerkschaftliche Grundrechte auf Verhandlungs- und Tariffreiheit. Es richtet sich einerseits gegen die Minderheitengewerkschaften in einem Betrieb, wie z.B. heute gegen die GDL. Es bedroht andererseits aber auch grundsätzlich das allgemeine gewerkschaftliche Recht auf Streik durch die Möglichkeit seiner Einschränkung unter Berufung auf die „Verhältnis-mäßigkeit“, d.h. ob er dem „allgemeinen und öffentlichen Interesse“ schadet. (s. Einleitungs- und Begründungstext zum TEG).

Mit dem Aufschwung der gewerkschaftlichen Kampfbewegungen vor den anstehenden Bundestagswahlen durchbrechen die Arbeitnehmer*innen vor allem im öffentlichen Sektor mit zunehmender Heftigkeit diese gesetzlichen Fesseln, die seit dem „Historischen Kompromiss“ im politischen sozialpartnerschaftlichen Bündnis von Regierung, Kapital und Gewerkschaften einen relativen „sozialen Frieden“ garantieren sollten.

Dagegen suchen die Regierungen, im Bund wie in den Ländern, die offene Konfrontation, in dem sie Streikverbote über Gerichte erzwingen wollen. Sie können sich dabei auf Gewerkschaftsführungen stützen, die die Gesetze gegen das Grundrecht auf Streik respektieren – während generell Gewerkschaftsverantwortliche und –organe an der Basis ihren Platz in der Organisierung des gewerkschaftlichen Kampfes sehen, im Konflikt mit den Führungen.

 Der GDL-Streik

hat sich zu der heute kämpferischsten Widerstandsaktion gegen die von der GroKo erzwungenen und vom Bahnvorstand umgesetzten einschneidenden Sparmaßnahmen, entwickelt: die Schleifung der Infrastruktur, Personalabbau, Stilllegungen von Strecken, Bahnhöfen…

Mit dem Streik prallte die GDL gleichzeitig frontal mit dem Versuch von Bahnvorstand und der GroKo-Regierung zusammen, über die Anwendung des TEGs dem Streik das Rückgrat zu brechen. Der Versuch, per Gericht den Streik verbieten zu lassen, scheiterte.

Während der DGB offiziell das TEG unterstützt und sich der Position von Bahnvorstand und Regierung unterwirft, erklärte der ver.di Vorsitzende Frank Wernecke: „Es (das TEG) gehört ersatzlos gestrichen.“ Es ist ein wegweisender Erfolg, dass die Kolleg*innen mit ihrer Gewerkschaft diesen Angriff aufs Streikrecht zurückschlagen konnten.

Beispielhafter Kampf der Kolleg*innen von Charité und Vivantes

Besonders betroffen von einer gewerkschaftsfeindlichen Offensive durch Regierung und Krankenhaus-Geschäfts-führungen sind die Beschäftigten in den großen Berliner Krankenhäusern Charité  und Vivantes, die in einem gemeinsamen Streik für „mehr Personal“ und „TVöD für alle“ den Kampf für die Wiederherstellung einer verantwortlichen Gesundheitsversorgung auf die Tagesordnung gesetzt haben.

Die enorme Kampfbereitschaft aller Beschäftigten drückt sich auch in der Zahl von fast Zweitausend neu gewonnen Gewerkschaftsmitgliedern seit dem Frühsommer aus. Die Geschäftsführung antwortet, unter Verantwortung des rot-rot-grünen Senats als dem Arbeitgeber der landeseigenen Kliniken, mit Repressionsmaßnahmen – bis zur Kündigung von Streikführern – und auch hier dem Versuch, den Streik per Gerichtsbeschluss verbieten zu lassen. Auch dieser Vorstoß ist – wie später beim GDL-Streik gescheitert.

Durch die enorme Mobilisierung der Kolleg*innen und Proteste in der ganzen Stadt sah sich der Regierende Bürgermeister, Michael Müller, veranlasst zu erklären: „…die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen die Chance haben zu streiken. Punkt. Dazu kann es keine zwei Meinungen geben und da kann es auch keine andere Position in einer Geschäftsleitung geben.“

Die Geschäftsführerin von Vivantes, Schmidt, ehemalige Helios-Managerin u.a. für Tarifrecht, verteidigte ihren Gang zum Gericht nach ihrer Niederlage im Inforadio des rbb mit dem Hinweis, dass sie „auch stellvertretend für viele andere Krankenhäuser“ gehandelt habe. (!) D.h. sie wollte auch für die anderen Krankenhäuser Pflöcke einschlagen gegen die bundesweit wachsenden Widerstands- und Streikbewegungen.

Warum diese Schärfe? Der Kampf für „TVöD für Alle“ ist der Kampf gegen Ausgliederung und Niedriglohn, gegen die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse, mit denen die öffentlichen wie privaten Krankenhäuser Lohnkostensenkung zur Steigerung von Rendite und Profit erzwingen wollen.

Die Forderung nach „Mehr Personal“ richtet sich gegen die Kaputtsparpolitik gegen das öffentliche Gesundheitswesen. Letztlich verlangt die Erfüllung dieser Forderung u.a. die Aufhebung des DRGs-Systems, d.h. sie richtet sich direkt gegen bundes- und landespolitische Entscheidungen, ist also eine „nichttariffähige“ Forderung. Der Streik für diese Forderung, der mit großer Entschlossenheit von den Kolleg*innen von Charité und Vivantes und mit bundesweiter Resonanz geführt wird, bricht mit dem „Historischen Kompromiss zwischen Kapital und Arbeit“, der das Streikrecht auf tariffähige Forderungen beschränkt.

Die Klassenkämpfe haben eine neue Etappe erreicht.

Die Arbeitnehmer*innen lassen sich das Streikrecht nicht nehmen. Das betrifft aber ebenso das Recht auf den Widerstandskampf durch Demonstrationen und Versammlungen, die durch das Notverordnungsregime der GroKo und durch Polizei- und Anti-Versammlungsgesetze angegriffen werden.

Schon heute sehen sich Hunderttausende Mieter*innen gezwungen, gegen die katastrophale Wohnungsnot und Mietwucher auf die Straße zu gehen, die Folgen einer Politik, die den Wohnungsmarkt den Finanzmärkten ausgeliefert hat. Der von 350.000 Berliner*innen geforderte Volksentscheid über die Enteignung von großen Immobilienbesitzern hat bundesweit Resonanz gefunden.

Fridays for Future ruft besonders die Jugend auf, am 24. September, zwei Tage vor der Wahl, in hunderten Städten und Gemeinden, für die Verteidigung der Natur und die gesellschaftliche Zivilisation gegen die Profitgier der Konzerne und Finanzspekulanten auf die Straße gehen.

Schüler*innen, Lehrer*innen, Erzieher*innen, Eltern, sowie Studierende engagieren sich in vielfältigen Aktionen und Protesten für die Verteidigung des Rechts auf Schule und Bildung für alle Kinder und Jugendliche und für die Bereitstellung und Finanzierung aller benötigten Schutzmittel, inclusive Tests und Impfung. Sie kämpfen für mehr Lehrer und kleinere Klassen zur Realisierung eines verantwortlichen Unterrichts jetzt nach Ferienschluss.

Tausendende Solo-Selbständige, Freischaffende Kunst– und Kulturschaffende, Gastronomiebeschäftigte mobilisieren sich in immer neuen Demos und Protestaktionen gegen den sozialen Absturz und suchen die Gewerkschaften für die Organisierung ihres Kampfes.

In diesem Aufschwung des sozialen Widerstands, der harten Tarifkämpfe, den nationalen wie lokalen Streiks und Demonstrationen, kündigt sich die Verschärfung der Klassenkämpfe für die Zeit nach der Wahl an. Sie wird bestimmt sein von dem Zusammenprall der arbeitenden Bevölkerung und Jugend mit der vom Kapital geforderten brutalen Offensive gegen alle noch existierenden sozialstaatlichen Errungenschaften, auf die sich alle etablierten Parteien, egal in welcher Regierung sie sich formieren werden, verpflichten.

Wir laden die gewerkschaftlich und politisch engagierten Kolleg*innen ein zur Diskussion in den Politischen Arbeitskreisen über ihre Kampferfahrungen und die hier aufgeworfenen Fragen und Positionen, sowie über die Vorbereitung auf die kommende Situation:

Schluss mit dieser Politik der sozialen und demokratischen Zerstörung!

Wir brauchen eine Regierung für die Erfüllung der Forderungen der arbeitenden Bevölkerung und Jugend unter wirklicher demokratischer Kontrolle.

Gotthard Krupp

 

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